Spitzbergen – Architektur und Abenteuer am Rand der Zivilisation

VON GÖTZ SCHNEIDER

Drei Expeditionen zu den architektonischen Spuren Spitzbergens

Die Landschaft Spitzbergens ist eine archaische Schönheit aus Eis und Fels, ein Ort, an dem die Natur die Gesetze des Daseins diktiert.

Doch in dieser unbarmherzigen Wildnis existieren auch architektonische Relikte der Zivilisation – von den bunten Häusern Longyearbyens bis zur gespenstischen Vergangenheit der russischen Siedlungen.

Auf drei Expeditionen durch Spitzbergen erkundeten wir – ein befreundeter Architekt, unser Svalbard-Guide Jiri aus Tschechien und ich – nicht nur die Landschaft, sondern auch die Bauwerke, die hier allen Naturgewalten trotzen.

Longyearbyen – Ausgangspunkt aller Expeditionen

Longyearbyen, die nördlichste Siedlung der Welt, war der Startpunkt für all unsere Expeditionen.

Die Stadt ist eine Mischung aus farbenfrohen Holzhäusern, zweckmäßiger Architektur und modernen Einrichtungen wie der Universität und dem berühmten Svalbard Global Seed Vault.

Hier trotzen Gebäude den eisigen Temperaturen und dem instabilen Permafrost, indem sie auf Stelzen errichtet sind. Doch so lebendig Longyearbyen ist – die wahre Wildnis beginnt nur wenige Kilometer außerhalb.

Von Longyearbyen aus fuhren wir per Schneemobil durch das endlose Weiß – bis die Welt verschwand. Und dann wurde es noch weißer. Wir fuhren in das sogenannte Whiteout, welches aus von Wind aufgewirbeltem und fallendem Schnee sowie Nebel entsteht. Einige können nicht weiterfahren, sie verlieren das Gleichgewicht, da es kein Oben und Unten mehr gibt. Der Horizont verschwindet, die Sicht ist nahezu verloren, der Vordermann entgleitet immer wieder für Sekunden, und man rauscht durch einen weißen leeren Raum – es könnte auch dunkel oder total schwarz sein, es wäre die gleiche Blindheit. Es kam mir in den Sinn, dass viele Filme den Übergang von der Erde in den Himmel so darstellten oder auch den Himmel selbst. Es gefiel mir. Es war wie eine Auflösung, ein Schweben. Dann wieder Schatten, Berge – für Sekunden. Es war wirklich magisch.

Stundenlang fuhren wir durch diese Landschaft über den Gletscher, den man sich wie einen Schildkrötenpanzer vorstellen kann. Als wir den östlichen Rand des Gletschers erreicht hatten, war es dunkel und wir standen am Fjord. Den mussten wir noch zwölf Kilometer überqueren – dickes Eis, tiefe Risse. Eine Eisbärenmutter mit ihrem Nachwuchs querte gemütlich unseren Weg, und in der nächtlichen Ferne ein Licht: Pyramiden!

Nach unserer Ankunft trafen wir den Russen Johan, der seit annähernd 50 Jahren hier lebt. Er kennt den Ort von heute. Er kennt den Ort von damals. Heute ist Pyramiden leer, still, verlassen. Damals war es mit seinen Worten gesprochen „ein Paradies“. Am nördlichsten Punkt der Menschenwelt liegen die Überreste einer sowjetischen Bergbaukolonie, in der bis zu 1000 Menschen lebten und arbeiteten – bei minus 30 Grad und monatelanger Dunkelheit.

Er hatte für unsere Tour einen Ascheweg für sicheren Schritt gelegt und die Umgebung nach Eisbären abgesucht. Es gibt hier eine Menge davon, da sie die Gebäude als Camouflage für die Jagd nutzen. Die auf den großen Wiesenflächen (unter dem Schnee verborgen) nach Gras grabenden Rentiere müssen sich vor ihnen fürchten, Seerobben ausnahmsweise nicht.

Die Pistole am Gürtel, das Gewehr mit sich leicht lösenden und ausgefransten Klebebändern in den Flaggenfarben Rot, Weiß, Blau am Lauf verziert, stapften wir Johan hinterher. Wir gingen über weitläufige, fast zu groß wirkende Plätze, vereinzelt mit Bärenspuren im Schnee, an Kuhställen, Werkstätten, Gewächshaus, Wohngebäuden mit drei Stockwerken, Verwaltungshäusern, der Feuerwehr und Großküchen vorbei. Johan erweckte die alten, verwelkten Gemäuer durch seine Geschichten kurzweilig für uns zum Leben.

Am Ende der Welt neigten die Menschen wohl dazu, die Welt zu sich zu holen. Es gab das Gebäude mit dem Spitznamen „London“, in dem die Bergwerksleitung wohnte und eine ernste und steife Atmosphäre verbreitete, wie eben das formelle London. Das genaue Gegenteil war das Haus „Paris“ – hier befand sich die Bar, es wurde gefeiert, getrunken und gelacht.

Am Ende erreichten wir das jüngste, zuletzt gebaute Gebäude: das große Kulturhaus. Es erinnert stark an die Architektur von Le Corbusier. Vor dem Kulturhaus steht eine Büste von Lenin, und während Johan noch immer begeistert von seinem Paradies erzählt, wird mir klar, dass etwa 1000 Menschen aus ideologischen Gründen vom sowjetischen Regime ans Ende der Welt geschickt wurden, um Kohle für einen Staatsbetrieb abzubauen, der niemals wirtschaftlich erfolgreich war, sondern ein Weltbild für einen Staat verbreiten sollte. Welche Entbehrungen Menschen doch anscheinend bereit sind zu leisten.

Nachdenklich ließ ich Lenin zurück und blinzelte in die sich zeigende Sonne – für Jiri das erste Mal seit einem Vierteljahr. Dann brachen wir wieder auf Richtung Gletscher – für einen zweiten Besuch des Whiteouts.

Unsere zweite Expedition führte uns Richtung Westen, nach Barentsburg. Doch bevor wir die russische Bergbausiedlung erreichten, verbrachten wir eine Nacht unter freiem Himmel – oder besser gesagt in einem Zelt, umgeben von Schnee und Kälte. Bei -12°C zu übernachten ist eine Herausforderung, besonders mit dem ständigen Gedanken an Eisbären. Während einer von uns Wache hielt, dösten die anderen in ihren Schlafsäcken, den Atem gefangen in der klirrenden Kälte.

Am nächsten Tag erreichten wir Barentsburg, dass im Vergleich zu Pyramiden lebendiger wirkt. Die russische Siedlung beheimatet knapp 300 Menschen, überwiegend Bergarbeiter. Es ist nicht nur eine historische Reliktstadt, sondern auch der Standort des letzten aktiven russischen Kohlebergwerks auf Spitzbergen.

Hier gibt es eine sowjetische Ästhetik, gepaart mit einer gewissen Nachkriegsnostalgie: Mosaike an den Fassaden, Plattenbauten, und das Lenin-Denkmal, das ebenso trotzig in die Ferne blickt wie das in Pyramiden. Anders als Pyramiden ist Barentsburg nicht verlassen – es gibt eine Schule, ein Krankenhaus und eine Brauerei. Die Architektur ist roh und funktional, angepasst an das Leben in der Arktis.

Unsere dritte Expedition brachte uns hoch hinaus – zu einer tiefen Gletscherspalte, die wir erkundeten. Der Abstieg in ein acht Meter tiefes, senkrechtes Eisloch war eine Grenzerfahrung.

Doch diese Höhle war nicht nur eine Herausforderung – sie war auch ein Naturbauwerk. Die feinen Eiskristalle glitzerten im Schein unserer Taschenlampen, filigrane Strukturen schimmerten wie gotische Spitzbögen im frostigen Licht.

Es war, als betrete man eine von der Natur geschaffene Kathedrale aus gefrorenem Licht.

Wir haben uns abgeseilt um dann später mit Steigeisen und Eispickel uns wieder nach oben zu kämpfen.

Das Eis war hart, die Wände rutschig, und jeder Griff musste sitzen.

Wer hier fällt, hat kaum eine Chance, sich alleine wieder hinaufzuarbeiten. Es war ein Balanceakt zwischen Technik und Überwindung – eine Begegnung mit der Ästhetik des Eises, geschaffen von Zeit und Temperatur.

Für mich insgesamt eine Once-A-Livetime-Experience, die ich sehr genossen habe. Fantastisch wie sich Menschen auch in solchen klimatischen Umgebung ein Leben einrichten und wohlfühlen!

Ihr Götz Schneider

Vielen Dank auch an snowfoxtravel.com, die uns mit weiterem Bildmaterial unterstützt haben.

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